Ist Betroffenheit Befangenheit?

Sibylla Windelberg
erschienen in der Zeitschrift für Lärmbekämpfung 2001, Nr.4,  S.113 ff

Im nächsten Jahr wird der Deutsche Arbeitsring für Lärmbekämpfung (DAL) 50 Jahre alt. Bald 50 Jahre unterstützt der DAL die Interessen derjenigen, die durch Lärm betroffen sind. Für die Interessen der Betroffenen setzen sich im DAL Sachverständige ein, die in der Regel nicht direkt zur Gruppe der Betroffenen gehören. Eine völlig neue Situation hat sich seit der letzten Mitgliederwahl ergeben: Wohl erstmalig in der Geschichte des DAL werden seitdem die vom Schienenlärm Betroffenen durch zwei Betroffene selbst vertreten. Diese Tatsache ist für den DAL und die Betroffenen ungewohnt.

Die Betroffenen sind keine Sachverständigen, wie sie im DAL überwiegend vertreten sind. Einzig ihre Betroffenheit ist die Motivation, sich in die interdisziplinäre Auseinandersetzung über Lärmwirkung, -messung und –bewertung einzumischen. Es ergeben sich dadurch Fragen zum gegenseitigen Verständnis, auf die hier kurz eingegangen wird.

Die Zeitschrift für Lärmbekämpfung (ZfL) beansprucht in der interdisziplinären Grundsatzdiskussion zum Lärm einen hohen Stellenwert. Sie ist „die einzige deutschsprachige Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Lärmbekämpfung.“ Mit ihren Beiträgen wendet sie sich an „Fachleute in wissenschaftlichen Instituten, Planungs- und Ingenieurbüros, Konstruktionsabteilungen, Umweltdezernate, Verwaltungen und politische Instanzen.“ Diesen Hinweis findet der Leser in jedem Heft. Wen er bei der o.g. Aufzählung nicht findet, sind die Betroffenen selbst, derentwegen die Beiträge verfasst werden. Das mag u.a. auch damit zusammenhängen, dass die Betroffenen im DAL bisher kaum vertreten sind. Und so ergibt sich die Frage:
Ist es ihre Betroffenheit selbst, die den Betroffenen im Weg steht, um in der Diskussion der Lärmproblematik ihren angemessenen Platz zu finden?

  • Die Perspektive, aus der heraus ein Betroffener den Lärm betrachtet, ist eine andere, als die der Fachleute, die sich mit dem Lärm berufsmäßig beschäftigen.

Einmal unter Sachverständige geraten, ist der Betroffene in der Regel ein Exot, der – wenn er Glück hat – geduldet wird. Den Vorwurf, dass er betroffen sei, bekommt er allerorts zu spüren. D.h. ihm wird wegen seiner Betroffenheit Befangenheit unterstellt, seinen Ausführungen bezüglich des Lärms Subjektivität – gleichgültig wie qualifiziert sie auch sein mögen. Hier ergeben sich weitere Fragen:

Ist ein Sachverständiger, der von einem Unternehmen den Auftrag für ein Gutachten zur Lärmmessung, -wirkung oder -bewertung erhält, weniger befangen? Sind die Vorgaben, an die sich der Gutachter zu halten hat, nicht ebenfalls „subjektiver“ Natur, da mit diesen ganz spezielle Interessen des Auftraggebers verfolgt werden?

  • Sind Betroffene bezüglich des Lärms nicht genauso viel oder wenig befangen wie Sachverständige, die für einen Auftraggeber den Lärm nach dessen Interessen untersuchen?

Die Beiträge zum Lärm in der ZfL verfolgen unterschiedliche Interessen. Es sollen auch die Interessen der Betroffenen sein.
Bezüglich des Schienenlärms zeigt sich, dass überwiegend die Interessen eines Unternehmens verfolgt werden. Kein anderer - außer diesem Unternehmen hat von sich aus Interesse, ganz spezielle Fragen zur Wirkung von Schienenlärm zu untersuchen. Die Lärmwirkungsforschung zum Schienenlärm ist entscheidend durch die Vorgaben eines einzelnen Auftraggebers geprägt.

  • Ist es Befangen- oder eher Unbefangenheit, wenn sich Betroffene in die Lärmdiskussion einmischen und sich für eine vielseitige, fachliche Auseinandersetzung einsetzen?

Durch die Veröffentlichungen von Berichten über Untersuchungsergebnisse in der ZfL werden diese zitierfähig. Zusätzlich als Gutachten in Klageverfahren eingesetzt, können sie dazu dienen, bestimmte Ansprüche eines Auftragsgebers zu legitimieren, wobei die juristische Auslegung der Untersuchungsergebnisse eine unkontrollierte Eigendynamik entwickeln kann. Dazu ein Beispiel, bei dem sich am Ende die Frage ergibt: Um welche Interessen geht es in diesem Fall?

„ Auch die hohe Zugfrequenz von 586 Zügen pro 24 Stunden spricht nicht dafür, den Schienenbonus entfallen zu lassen. Das Bundesverwaltungsgericht hat es bei einer Zugzahl von 422 Zügen pro 24 Stunden ( d. h. bei gleichmäßiger Verteilung der Züge auf den ganzen Tag ca. alle 3,41 Minuten ein Zug) als vertretbar angesehen, den Schienenbonus anzusetzen Bei der streitgegenständlichen Ausbaustrecke werden ca. 586 Züge ..erwartet, d.h. bei gleichmäßiger Verteilung auf den ganzen Tag alle 2,54 Minuten ein Zug. Diese Zugfolge lässt Lärmpausen entstehen, wobei sich die Pausen noch verlängern, da sich die Züge teilweise überschneiden, so dass ein Vergleich mit Straßenverkehrslärm, wo bei einer derart hohen Lärmbelastung Lärmpausen nicht mehr vorkommen, nicht angestellt werden kann. Bei gleichem Mittelungspegel ist die Anzahl der Vorbeifahrten von Kraftfahrzeugen etwa 100-fach höher als diejenige von Zügen...Im übrigen wird auf die neuere Untersuchung zum Schienenbonus bei hohen Lärmbelastungen hingewiesen.“ ( Bay VGH, 15.1.01., 20 A 99.40024,S.22)

Hohe Lärmbelastung heißt in diesem Fall ein Beurteilungspegel von 75 dB(A), der zwar „weit oberhalb“ der 70 dB(A) liegt, die „das Bundesverwaltungsgericht nach den früher bekannten Studien als maßgeblich angesehen hat“, der aber dennoch –„trotz der in der Wissenschaft aufgeführten Bedenken“ keine „Gesundheitsgefahren i.S.v. Art.2 Abs.2 GG“ darstellt wegen der o.g. in Auftrag gegebenen neueren Untersuchungen.

Mit ziemlicher Sicherheit gehört ein Richter, der ein solches Urteil fällt, nicht zu den durch Lärm stark Betroffenen.

  • Oft ist es gerade die Betroffenheit selbst, die wesentlich zur Sensibilisierung für ein bestimmtes Problem beiträgt.

Dazu gibt es Beispiele auf vielen Gebieten. Auch bezüglich der Lärmproblematik sind es nicht selten gerade Betroffene, die durch ihren Beitrag die allgemeine Wahrnehmung sensibilisieren.

DAL und Betroffene sollten daher die neue Situation nutzen und sich vorurteilsfrei gemeinsam für eine möglichst vielseitige Diskussion zu speziellen Lärmproblemen einsetzen.

 

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