Herr Nocke, wenn ein Zug an mir vorüberfährt, dann zeigt ein Messgerät etwa – je nach Zustand der Waggons – 90 bis 100 db(A). In den Unterlagen zur Planfeststellung für die Stadtstrecke liegen die Tag- und Nachtpegel sehr viel niedriger. Was ist da los?

NockeEs geht nicht um gemessene Pegel, sondern um berechnete Werte. Das heißt, dass der Vorbeifahrtpegel mit ruhigeren Zeiten vor und nach dem Passieren des Zugs nach einer bestimmten Methode zeitlich gemittelt wird. Der Beurteilungspegel, den man rechnerisch erhält, wird als Maßstab für die Bewertung des Schalls genommen.

Wenn ich nachts an der Bahnlinie schlafe, wache ich aber vermutlich nicht vom Mittelwert auf, sondern von dem Lärm des gerade vorüberfahrenden Zugs...

NocKeDas ist so, spielt aber für die Berechnung keine Rolle. Nach diesem Prinzip geht es ihnen sehr gut, wenn sie einen Fuß in kochendes Wasser halten und einen in Eiswasser. Der Mittelwert ist rechnerisch angenehm.

Auf diesem Konstrukt basiert also der Umfang des Schallschutzes.

NockeJa. Die Berechnung beruht auf der Richtlinie „Schall 03“, auf die die maßgebliche Verkehrslärmschutzverordnung des Bundesimmissionsschutzgesetzes verweist. Diese Richtlinie hat die Bahn selbst verfasst. Die Fachwelt ist sich einig, dass die jetzige Fassung aus dem Jahr 1990 längst überholt ist. Aber sie ist nach wie vor in Kraft. Seit 2006 gibt es einen Entwurf zur Neufassung, der allerdings noch nicht angewendet wird.

Wie der sogenannte Schienenbonus.

NockeDa sprechen Sie ein interessantes Thema an. Für Planfeststellungsverfahren, die nach dem 1. Januar 2015 beginnen, gilt dieser Schienenbonus nicht mehr, der dem Verkehrsmittel Bahn grundsätzlich mehr Lärm erlaubt als etwa dem Straßenverkehr. Das bedeutet, dass Bahnanlieger in Oldenburg wegen des jetzigen Planungsstarts 5 dB(A) mehr ertragen müssen als Anlieger von Strecken, deren Ausbau 2015 geplant wird. Wenn man bedenkt, dass eine Steigerung um 10 dB(A) ungefähr einer Verdoppelung des empfundenen Lärms ist, macht das einen Riesenunterschied.

Gibt es da keine Übergangsfrist?

NockeWenn Bund oder Bahn die Mehrkosten übernehmen, kann man den Bonus auch in laufenden Verfahren außer Acht lassen.

Mag sein, dass das schwankender Boden ist, aber sollen solche Planungen nicht dem aktuellen Stand der Technik angepasst sein?

NockeEs ist in der Tat so, dass jeder Planer gehalten ist, die anerkannten Regeln der Technik zu beachten. Aber darüber werden am Ende wohl Richter entscheiden. Ich sehe veraltete Rechenwege, zu hohe Grenzwerte. Die Bahn scheint das Verfahren deswegen schnell über die Schiene schieben zu wollen.

Verkehrsamtsleiter Bernd Müller hat zudem angemerkt, dass man bei der geplanten Ausweitung des Bahnverkehrs auch den bereits bestehenden Verkehrslärm – etwa von den Autobahnen – einbeziehen müsste.

NockeJa, da hat Herr Müller recht. Es fehlt aber der Lärmaktionsplan, der nach EU-Recht bis Juni 2013 hätte erstellt werden müssen, was aber die Stadt nicht durchführen konnte, weil die Bahn keine Daten über den schon jetzt vorhandenen Bahnlärm liefert – was die Stadt bislang zu akzeptieren scheint. Aus meiner Sicht liegt schon jetzt ein Lärmteppich über der Stadt. Es wäre falsch, das in diesem Verfahren auszublenden.

Wir reden beim Lärmschutz allein über die Strecke von der Stadtgrenze im Norden bis zum Bahnhof. Was ist eigentlich mit den restlichen Bahnanliegern, etwa im neuen Hafenviertel oder in Osternburg?

nockeDie haben keinen Anspruch auf Lärmschutz.

Aber die Züge sind doch da nicht leiser!

Nocke Nein, aber einen Rechtsanspruch auf Schallschutz, der die Obergrenzen bei Tag und bei Nacht im Innern des Hauses garantiert, gibt es nur, wenn die Strecke ausgebaut bzw. „wesentlich verändert“ wird. Eine Zunahme des Verkehrs auf einer unveränderten Strecke begründet keinerlei Anspruch.

Wenn die Bahn also die Strecke nördlich des Bahnhofs nicht elektrifizieren müsste, dann würde kein Oldenburger Lärmschutz bekommen?

NockeSo ist es.

Gesetzt den Fall, dass der Schienenbonus abgezogen würde oder wegen der Einbeziehung von Erschütterungen der Lärmschutz-Anspruch verschärft würde – ließe sich das an der Stadtstrecke überhaupt machen?

NockeIch bezweifle, dass man hier Lärmschutzwände höher bauen könnte, als die geplanten vier Meter. Und noch schwerere Fenster und dickere Wand- und Dachdämmungen? Ich sehe das nicht. Es würde dann vermutlich deutlich mehr als die 1550 Häuser geben, an denen die jetzt geplanten Lärmschutzwände allein nicht zur Einhaltung der Grenzwerte führen.

Könnten Nachtfahrverbote die Situation nicht deutlich entschärfen?

NockeJa, aber das Bundesverwaltungsgericht hat das nur für die Übergangszeit bis zum Bau des Lärmschutzes als Möglichkeit in Aussicht gestellt. Dabei gibt es solche Einschränkungen für andere Verkehrsträger schon; etwa Nachtflugverbote oder Sonntagsfahrverbote für Lastwagen.

Alles eher Detaillösungen.

NockeEs fehlt ein umfassendes Lärmschutzgesetz, mit dem die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe für Verkehrslärm, Gewerbelärm, Sportlärm, Freizeitlärm, Baustellenlärm, die bislang alle in separaten Richtlinien geregelt werden, zusammen betrachtet werden, um so die Menschen zu schützen. Es ist rechtlich noch nicht abschließend geklärt, ob und wie die Gesamtlärmbelastung zu betrachten ist.

Also läuft’s am Ende wohl auf eine Gerichtsentscheidung hinaus.

NockeDas könnte so sein.