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Forschungsprojekt: Warum eskalieren Protestbewegungen gegen Bauvorhaben? Forschungsobjekt "Wutbürger"

Jade-Weser-Port, Y-Trasse oder neue Windparks: Große Infrastruktur- und Bauvorhaben stoßen häufig auf vehementen Widerstand und sind Anlass teilweise heftiger Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern.
18.10.2014, 00:00 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Von Martin Wein

Jade-Weser-Port, Y-Trasse oder neue Windparks: Große Infrastruktur- und Bauvorhaben stoßen häufig auf vehementen Widerstand und sind Anlass teilweise heftiger Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern. Warum und wie Konflikte konkret eskalieren, das wollen jetzt Wissenschaftler der Universitäten Braunschweig, Hannover und Göttingen in einem dreijährigen Forschungsprojekt herausfinden. Martin Wein hat mit Nils Bandelow, dem Sprecher des Forschungsverbundes, gesprochen.

Die „Wutbürger“ und ihr Verhalten werden zum Forschungsthema. Was wollen Sie herausfinden?

Nils Bandelow: Was uns vor allem interessiert, ist der Prozess der Eskalation als solcher. Wir müssen erst einmal definieren, ob Eskalation erst bei Gewalthandlungen beginnt. Man kann auch empirische Konstrukte bilden, die zeigen, dass vielleicht schon etwas wie unkonventioneller Protest die Vorstufe ist für spätere Gewalt. Vielleicht ist sie auch bereits angelegt im Verhalten derjenigen, die Großprojekte durchsetzen wollen. Wenn wir diese Prozesse verstehen und erklären können, lassen sich daraus womöglich Empfehlungen zum konstruktiveren Umgang mit Großprojekten ableiten.

Viele Politiker in Bund und Land reiben sich seit einigen Jahren die Augen, dass ganz normale Bürger ihre Entscheidungen so vehement in Zweifel ziehen. Hat das ihr Vorhaben beflügelt?

Vonseiten der Politik besteht die Angst, dass man bei Großprojekten gar nicht mehr handlungsfähig ist. Die Bevölkerung glaubt hingegen zunehmend, dass derartige Entscheidungen auf nicht-demokratische Weise und vielleicht auch inkompetent getroffen werden. Die Menschen, die heute protestieren, haben häufig etwa als Ingenieure sehr viel Sachverstand. Diesen einzubringen und gleichzeitig noch handeln zu können, ist eine große politische Herausforderung.

Sie möchten aber nicht erforschen, wie man Großprojekte auch gegen den Willen der Bevölkerung oder großer Teile davon durchsetzen kann?

Ich finde es sehr naheliegend, so etwas zu befürchten, weil Wissenschaft sehr oft genau so funktioniert. Im Prinzip steht das Ergebnis fest. Man bemüht sich dann über Kommunikationsprozesse, mehr Akzeptanz dafür zu schaffen. Unser Ansatz ist dagegen zunächst ein rein akademischer.

Wurde in der Vergangenheit bei Großprojekten wirklich ergebnisoffen diskutiert?

Bei Stuttgart 21 waren die Entscheidungen viel eher getroffen worden, bevor man die Bevölkerung eingebunden hat. Eine solche Form der Pseudo-Beteiligung wollen wir nicht. Vielmehr sollen auch die politischen Entscheider verstehen, warum die Leute auf die Straße gehen. Unsere ersten Forschungen dazu zeigen: Jeder von uns kann in eine solche Situation geraten, wenn eigene Interessen oder normative Sichtweisen verletzt werden.

In der Vergangenheit wurden Demonstranten pauschal als „linke Randalierer“ außerhalb der bürgerlichen Ordnung abgestempelt, die per se als Gesprächspartner nicht infrage kämen.

Das ist jetzt anders: Diese Menschen kommen aus der Mitte der Gesellschaft, haben oft einen akademischen Hintergrund und sind häufig schon älter. Mit jugendlichem, linkem Protest hat das nichts mehr zu tun. Wir müssen die Anliegen dieser Menschen ernst nehmen. Natürlich hängt es vom jeweiligen Vorhaben ab, wer dagegen protestiert.

Politiker als Entscheidungsträger verfügen als Spiegel der Gesellschaft nicht über mehr Sachverstand. Sie lassen sich häufig von Lobby-Vertretern oder Interessenvertretern beraten. Gerade bei Großvorhaben treten die auf. Gibt es Ansätze, wie sich auch Bürger mit hoher Fachkompetenz ebenfalls nützlich einbringen können?

Zunächst müssen wir akzeptieren, dass es unheimlich schwierig ist, Kosten und Nutzen solcher Großprojekte neutral zu berechnen. Das versucht man ja beispielsweise bei der Bundesverkehrswegeplanung. Immer wieder stimmen die Prognosen aber nicht oder Kosten werden viel höher als geplant. Die Berechnungen fallen auch je nach Interessen der Auftraggeber unterschiedlich aus. Wissenschaft trägt nicht immer zur Deeskalation von Konflikten bei. Die Vertreter von Protestbewegungen wissen, wie subjektiv scheinbar neutrale wissenschaftliche Berechnungen sind. Wenn wir mit denen ins Gespräch kommen wollen, müssen wir solche Daten möglichst von neutraler Seite berechnen lassen und dürfen nicht nur eine angeblich unanfechtbare Überzeugung zulassen.

Auch im Flächenland Niedersachsen stoßen viele große Bauvorhaben an ihre Grenzen und berühren die Interessen von Anwohnern oder anderen Nutzern. Trägt diese Verdichtung zur Eskalation bei?

Das wäre eine schöne raumplanerische Perspektive. Wir müssten empirisch überprüfen, in welchen Fällen das tatsächlich eine Rolle gespielt hat. Es gibt aber auch andere Entwicklungen, etwa die nachlassende Vertrauen ins politische System. Schauen Sie etwa auf die nachlassende Wahlbeteiligung. Es gibt ganz andere Kommunikationsformen als früher. Vielleicht haben die dazu beigetragen, den Protest in die Mitte der Gesellschaft zu tragen.

Sie sind wissenschaftlich sehr breit aufgestellt von Bauingenieuren bis zu Psychologen. Wie wollen sie vorgehen?

Wir haben viele fachbezogene Einzelprojekte. Dabei geht es beispielsweise darum, wie wissenschaftliche Informationen von Befürwortern und Gegnern einzelner Projekte unterschiedlich wahrgenommen werden, wie es zur Verteufelung der jeweils anderen Seite kommt oder welches Vertrauen in unterschiedliche Institutionen gesetzt wird. Diese Perspektiven bringen wir in einem Querschnittsprojekt zusammen. Letztgültige Erklärungen werden in drei Jahren nicht vorliegen. Wir hoffen vielmehr, langfristig einen Forschungsschwerpunkt für dieses Thema in Niedersachsen zu verankern.

Betrachten Sie dabei auch konkrete Konfliktfälle in Niedersachsen?

Da wäre etwa die berühmte Y-Trasse. Die werden wir uns unter dem Aspekt der Hafenhinterlandanbindung empirisch anschauen. Dabei werden wir auch die Alternativen analysieren, denn es geht ja eben nicht um die Durchsetzung eines konkreten Vorhabens. Viele Konflikte entstehen im Zusammenhang mit der Energiewende. Da werden wir uns etwa Windparkprojekte in der Region Braunschweig anschauen und auch ausgewählte Abschnitte der geplanten Nord-Süd-Stromtrasse.

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