Schall 03 - Reine Physik – und nichts als reine Physik?

erschienen in Zeitschrift für Lärmbekämpfung. Nr.4-2005/52. Jahrgang

Verordnungen sind darauf angewiesen, dass Betroffene diese akzeptieren und befolgen . So werden Rechtsnormen oder Gesetzte auch nicht „am grünen Tisch“ entworfen. Organisationen und Gruppen, die von einer neuen Rechtsnorm betroffen sein werden, erhalten frühzeitig Gelegenheit, ihre Vorstellungen vorzutragen und ihr Fachwissen zur Verfügung zu stellen  - neben all den anderen Einrichtungen, die in diesem Zusammenhang ebenfalls einzubeziehen sind. Wesentlich für die Akzeptanz einer neuen Verordnung ist es, dass nicht nur eine Seite gehört wird, sondern auch andere, die unterschiedliche, vielleicht gegensätzliche Interessen auf dem gleichen Feld haben können. Weniger nützlich für die Akzeptanz eines Gesetzesvorhabens wäre es, wenn der Gesetzgeber sich einfach der einen oder anderen Meinung anschließen würde. Die Interessen sind deshalb gegenseitig abzuwägen und Zustimmung in den betroffenen Kreisen für ein Gesetzesvorhaben zu gewinnen, das dann - nach Abstimmung des Textes – zur Prüfung der Rechtsförmlichkeit und Beschlussfassung an die zuständigen Stellen weitergeleitet wird.

Formal wird diese hier nur grob angedeutete Vorgehensweise bei jedem neuen Gesetzgebungsverfahren selbstverständlich berücksichtigt. Im Bereich des Verkehrslärms sind allerdings Abweichungen von der o. g.Vorgehensweise festzustellen. Das zeigt folgendes Beispiel. Die Schall 03, das Regelwerk der Deutschen Bahn (DB AG), zur Berechnung des Schienenlärms nimmt unter den Rechtsnormen eine Sonderstellung ein. Quasi durch die Hintertür ist diese interne Richtlinie der Bahn in die derzeit gültige Verkehrslärmschutzverordnung mit einbezogen worden. Eigentlich sollen technische Regelwerke, auf die in Rechtsverordnungen Bezug genommen wird, grundsätzlich allgemein anerkannte Regelwerke des Deutschen Normausschusses (DIN Normen) oder des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI-Richtlinien) sein. Die Schall 03 ist hingegen als privates Regelwerk der Bahn quasi ein „Parteigutachten“. Den sogenannten Publizitätsanforderungen technischer Regelwerke ist nicht Rechnung getragen worden. Nach § 7 Abs. 5 Nr. 2 BimSchG sind Bekanntmachungen technischer Regelwerke beim Patentamt archivmäßig gesichert zu hinterlegen. Diese Voraussetzungen sind in der Verkehrslärmschutzverordnung nicht erfüllt.

Auf dem Gebiet des Verkehrslärms gibt es keine Standardisierung. Es fehlen  ISO- oder Euronormentwürfe. In der EU Richtlinie 2002/49/EG EG zur Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm werden deshalb im Anhang II wegen dieser Standardisierungslücke für die Berechnung von Schienenlärm die niederländischen Berechnungsmethoden vorgeschlagen.

Dem  Normenausschuss Akustik, Lärmminderung und Schwingungstechnik (NALS) im DIN und VDI  gehört kein Vertreter des Bundesverkehrsministeriums (BMVBW) an. Der NALS sieht die Ursache für die Standardisierungslücke in der ausdrücklichen Weigerung  des BMVBW, an entsprechenden Standardisierungsvorhaben mitzuwirken.

Die Richtlinie Schall 03 ist – auf Betreiben der Bahn - in den vergangenen 2 Jahren überarbeitet worden. (siehe editorial ZfL 2/2004, 51.Jg)  Der Entwurf  steht nun kurz vor der Fertigstellung - quasi wieder als  „Parteigutachten“. Dem  BMVBW reichen die Absprachen mit der Bahn. Eine Mitwirkung durch den Normenausschuss steht nicht zur Diskussion,
Auch die folgenden Tatsachen sind zwischen BMVBW und Bahn abgesprochen:

  • Die Finanzierung des Vorhabens wird von der Bahn übernommen.
  • Die Projektleitung liegt bei der DB AG, die Geschäftsführung  beim BMVBW.
  • Die Bahn beauftragt Ingenieure, mit denen sie seit vielen Jahren eng zusammen arbeitet, um die physikalisch ermittelten Daten zu interpretieren.

Bei der Überarbeitung der Schall 03 ist, u. a. zu berücksichtigen, dass der „Schienenbonus“ nicht Bestandteil der Fortschreibung der Schall 03 ist und dass das derzeitige „Schutzniveau“ nicht verändert werden darf, wobei das unveränderte Schutzniveau so ausgelegt wird, dass keine Mehrkosten gegenüber dem alten Regelwerk entstehen dürfen. Das Ziel der Überarbeitung soll hauptsächlich sein, die für den Lärm einflussreichen Parameter „rein physikalisch“ zu erfassen. Wenn aber nach diesen Vorgaben das „Schutzniveau“ unverändert bleiben soll – selbst dann noch, wenn sich herausstellt, dass das derzeitige Regelwerk grobe Fehler enthält, die bei deren Korrektur möglicherweise zu einer Erhöhung des Schutzniveaus führen müssten (siehe z. B. Lärmreport 2/2005, S. 8, Schienenlärm und Eisenbahnbrücken, in ZfL 3/2005, 52. Jg), dann liegen einer solchen Überarbeitung nicht  „rein physikalische“  Gesichtspunkte zugrunde.  Wenn - trotz der Vorgaben - der Schienenbonus und seine Begründung in der Schall 03 enthalten sind, dann hat das ebenfalls nichts mit physikalischen Gesichtspunkten zu tun. Ausschlaggebend sind am Ende vielmehr finanzielle und politische Vorgaben. Und so müssen wiederholt auf Grund von Vergleichsrechnungen zwischen alter und neuer Schall 03 physikalische Messwerte so interpretiert werden, dass keine zusätzlichen Lärmschutzkosten entstehen – auch wenn dadurch möglicherweise physikalisch messbare  Mehrbelastungen für die Betroffenen billigend in Kauf genommen werden.

Bei so viel Einfluss von Parametern, die nichts mit  „reiner Physik“ zu tun haben, und bei völliger Ignoranz gegenüber den allgemeinen Publizitätsanforderungen für technische Regelwerke besteht die Gefahr, dass die Akzeptanz der Richtlinie darunter leiden könnte. Selbstverständlich hat das BMVBW und die Bahn sich formal bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen zur Fortschreibung der Schall 03 an die eingangs geschilderte Vorgehensweise gehalten. Dennoch könnte das Ergebnis wegen der genannten Vorgaben möglicherweise einseitig ausfallen. Die Bahn und das BMVBW täten gut daran, aus Gründen der Akzeptanz nur die reine – und nichts als die reine Physik bei der Fortschreibung der Richtlinie zuzulassen.

Sibylla Windelberg

 

 

 

Dieses Projekt wurde gefördert von:

Die Verantwortung für den Inhalt dieser
Veröffentlichung liegt bei den AutorInnen.